Not macht erfinderisch. In der Schweiz hat der Organmangel für einen Durchbruch in der Transplantationsmedizin gesorgt. Der eröffnet nun erstmals Behandlungsoptionen, die bisher undurchführbar schienen.
ie Transplantationsmedizin, die mit der Explantation von Organen aus einem Organismus und ihrer Übertragung in einen anderen dafür sorgt, dass heute das Leben von Menschen verlängert werden kann, die anderenfalls dem Tode geweiht wären, stellt einen Segen dar. Zumindest für diese. Und auch das nur vorübergehend.
Zwischenlagerung beeinflusst Qualität der Organe
Herztransplantationen bescheren heute rund 83 Prozent der Empfänger ein volles weiteres Lebensjahr. 78 Prozent können dank eines fremden Herzens gleich zwei Jahre länger und 65 Prozent sogar fünf Jahre. Bei Lebertransplantierten beträgt die durchschnittliche Überlebensrate 78 Prozent nach einem, 75 Prozent nach zwei und 69 Prozent nach drei Jahren. Die höchste Erfolgsrate von allen weisen Nierentransplantationen auf. Sie ermöglichen ihren Empfängern heute in rund 90 Prozent der Fälle volle zwölf weitere Lebensmonate. Nach zwei Jahren leben noch 75 Prozent ihrer Empfänger und selbst nach fünf Jahren sind es immer noch 70 Prozent.
Dabei hängt die Überlebensrate von einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Zu ihnen gehört nicht nur das Alter des Organempfängers, die Art seines Leidens sowie sein sonstiger Gesundheitszustand, sondern auch die Güte der Operation – und keineswegs zuletzt die Qualität des übertragenen Organs. Dieses darf nicht nur nicht bereits beschädigt sein, es muss auch zeitnah nach seiner Entnahme transplantiert werden.
Der Grund: Außerhalb des menschlichen Leibes leidet das Gewebe eines Organs sehr rasch. Ist dies der Fall, kann es seine Aufgabe in dem neuen Organismus nicht mehr oder nur unzureichend erfüllen. Wie gut ein Transplantat den ihm zugedachten Dienst verrichtet, hängt daher auch ganz wesentlich von der Dauer und Art seiner zwischenzeitlichen Lagerung ab. Als Obergrenze für die Konservierung von Organen wird beim Herzen meist eine Dauer von gerade einmal vier Stunden angegeben. Bei der Leber sind es zehn, bei der Lunge zwölf und bei Nieren bis zu 50 Stunden.
Ischämiezeit durch Perfusionsmaschine verlängert
Mediziner sprechen in diesem Zusammenhang auch von der sogenannten Ischämiezeit. Gemeint ist damit die Zeit, in der ein Organ nicht durchblutet wird. Dabei wird gewöhnlich noch einmal zwischen der „warmen“ und der „kalten“ Ischämiezeit unterschieden. Als warme Ischämiezeit wird die Dauer bezeichnet, während der das zu transplantierende Organ noch innerhalb des Organismus verweilt, dem es entnommen werden soll, nachdem es dort bereits von der Blutzirkulation getrennt wurde. Kalte Ischämiezeit wird die Dauer genannt, für die das Organ außerhalb des Körpers in einer besonderen Lösung konserviert und kühl gehalten wird.
Wissenschaftlern des Universitätsspitals Zürich (USZ), der ETH Zürich und der Universität Zürich (UZH) ist es nun gelungen, eine Perfusionsmaschine zu entwickeln, mit der die Ischämiezeit von Lebern auf die Zeitspanne von einer Woche verlängert werden konnte. Mitte Januar berichtete das Team um Pierre-Alain Clavien darüber in dem renommierten Wissenschaftsjournal „Nature Biotechnology“ (Doi: 10.1038/s41587-019-0374-x).
„Der Erfolg unseres Perfusionssystems eröffnet viele neue Möglichkeiten, Spenderlebern außerhalb des Körpers zu überprüfen und zu behandeln und so den Patientinnen und Patienten mit schweren Leberkrankheiten zu helfen.“
Pierre-Alain Clavien, Direktor der Klinik für Viszeral- und Transplantationschirurgie am USZ
Dafür wurde die Maschine so konzipiert, dass sie den menschlichen Organismus möglichst genau imitiert, um explantierten Lebern annähernd ähnliche Bedingungen zu bieten. In dem technischen Meisterwerk dient eine Pumpe als Herzersatz. Ein Oxygenator ersetzt die Lunge und eine Dialyseeinheit übernimmt die Funktion der Nieren. Verschiedene Hormon- und Nährstoffinfusionen kompensieren die Funktionen des Darms und der Bauchspeicheldrüse. Und als wäre das noch nicht genug, bewegt eine weitere Maschine die Leber – analog zum Zwerchfell im menschlichen Organismus – im Takt der Atmung.
Überlebensdauer der Leber auf sieben Tagen katapultiert
„Der Erfolg unseres Perfusionssystems eröffnet viele neue Möglichkeiten, Spenderlebern außerhalb des Körpers zu überprüfen und zu behandeln und so den Patientinnen und Patienten mit schweren Leberkrankheiten zu helfen“, erklärt Clavien. Der Direktor der Klinik für Viszeral- und Transplantationschirurgie am USZ ist einer der Leiter des Projekts „Liver4Life“, das im Jahr 2015 unter dem Dach von Wyss Zürich gestartet wurde. Wyss Zürich ist ein Zusammenschluss der Universität Zürich und der ETH Zürich. Mit ihm soll sogenannte translationale Forschung ermöglicht und gefördert werden.
Der Forschungsverbund, der durch eine Großspende des Schweizer Unternehmers und Ex-Präsidenten des US-amerikanischen Medizintechnikherstellers Synthes, Hansjörg Wyss, ermöglicht wurde, konzentriert sich auf die Entwicklung von Behandlungsprotokollen und klinischen Therapien sowie von neuen Technologien und intelligenten Systemen auf den Feldern der Regenerativen Medizin und der Robotik.
„Die größte Herausforderung in der Anfangsphase unseres Projekts bestand darin, eine gemeinsame Sprache zu finden, die eine Verständigung über die jeweiligen Fachjargons der Spezialisten hinaus erlaubte“, erklärt Philipp Rudolf von Rohr, Professor für Verfahrenstechnik an der ETH Zürich und Co-Leiter der in „Nature Biotechnology“ publizierten Studie. Und tatsächlich konnten zu Beginn des Projekts Lebern in Maschinen maximal 24 Stunden erfolgreich aufbewahrt werden. Die von dem Team um Clavien und von Rohr nun erzielte Überlebensdauer von sieben Tagen katapultiert die Regenerative Medizin in eine völlig andere Galaxie und ermöglicht Behandlungen, die bisher – wenn zwar nicht undenkbar – so eben doch undurchführbar waren.
Wachstum von Leberstücken zur Re-Transplantation
Für die Studie bereiteten die Wissenschaftler um Clavien und von Rohr zehn Spenderlebern in der Perfusionsmaschine auf. Alle zehn waren zuvor für eine Transplantation als ungeeignet eingestuft worden, da ihre Qualität für nicht ausreichend erachtet worden war. Wie die Forscher schreiben, wiesen sechs der zehn Lebern nach der Perfusion in der Maschine eine Funktionsfähigkeit auf, die als hervorragend einzustufen sei.
Dabei machen sich die Forscher die erstaunliche Fähigkeit von Lebern zunutze, sich selbst zu regenerieren. Aus dem gleichen Grund lassen sich heute Leberresektionen durchführen, bei denen der erkrankte Teil der Leber einfach chirurgisch entfernt wird. Allerdings ist das nicht immer möglich. Ist nämlich der erkrankte Teil bereits zu groß, wäre ein Resektion für den Patienten tödlich, da er verbleibende Teil dann zu klein wäre, um eine ordnungsgemäße Funktion des Organs zu gewährleisten.
Die Forscher hoffen deshalb nun, dass es ihnen gelingt, kleinere Leberstücke in der Perfusionsmaschine zum Wachstum anzuregen und lange genug am Leben zu erhalten, bis sie so groß sind, dass sie sich für eine Re-Transplantation eignen. Gelänge dies, dann wären in Zukunft auch Therapien denkbar, bei denen der kranke Teil einer Leber solange im Patienten verbleibt, bis der gesunde groß genug ist, um das gesamte Organ zu ersetzen.
Echter Durchbruch in der Medizin
Die Vorteile eines solchen Szenarios liegen auf der Hand: Weil Spender und Empfänger des Organs in diesem Fall identisch sind, würde ein derart regeneriertes Organ vom Immunsystem als eigenes erkannt. Anders als bei einem Transplantat, das vom Immunsystem des Empfängers als fremd erkannt wird, könnten die so Therapierten auf die lebenslang notwendige Einnahme von Immunsuppressiva, die die natürlichen Abstoßungsreaktionen unterdrücken und den Organismus mittelfristig vergiften, verzichten. Das wäre tatsächlich einmal ein echter Durchbruch in der Medizin. Und ein ethischer noch dazu.
Kurz gefasst
Weil es zu wenig Spenderlebern gibt, haben Schweizer Wissenschaftler eine Perfusionsmaschine entwickelt, mit der sich Lebern außerhalb des Körpers sieben Tage lang konservieren lassen sollen. Die Idee dahinter: Nach erfolgreicher Regeneration sollen die Organe transplantiert werden, im Falle von Leberteilen womöglich sogar dem Spender selbst.
Quelle: Tagespost_2020-01-25
https://www.die-tagespost.de/leben/glauben-wissen/Wenn-die-Leber-Ferien-macht;art4886,204832