Das in der vergangenen Woche beschlossene Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei einer Organ- und Gewebespende hinkt an einem ganz entscheidenden Punkt: Dem Zeitpunkt, an dem Mediziner und Familie Einsicht in die vom Patienten hinterlegte Entscheidung bekommen sollen.
„Die Einsichtnahme in ein zukünftiges Register erst NACH Feststellung eines irreversiblen Hirnfunktionsausfalls (IHA) ist nicht praktikabel und widerspricht der gelebten Praxis der Patientenautonomie“, stellt Professor Dr. Klaus Hahnenkamp, Direktor der Klinik für Anästhesiologie der Universitätsmedizin Greifswald, klar. Der Sprecher der Sektion Organspende und Organtransplantation der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), und damit die Stimme von knapp 3.000 auf diesem Gebiet der Medizin tätigen Menschen, drängt auf eine Änderung des Gesetzentwurfes. „Sobald der betreffende Patient keine Aussicht mehr auf Heilung hat und der IHA unmittelbar bevorsteht oder vermutet wird, aber noch nicht festgestellt ist, muss eine Einsichtnahme in das Register möglich sein!“, bekräftigt auch DIVI-Präsident Professor Dr. Uwe Janssens, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler, diese Forderung. Janssens spricht als Präsident wie auch als Sektionssprecher der Gruppe Ethik. So ist Janssens überzeugt: „Wenn wir den Willen des Patienten erst zum derzeit festgelegten Todeszeitpunkt erfahren, können wir als Mediziner dem Wunsch des Patienten nicht entsprechen.“
Der Ablauf einer Organspende kann in die Zeiträume VOR der Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls und NACH der Feststellung eingeteilt werden. In der ersten Phase erkennt das Team aus den intensivmedizinisch behandelnden Ärztinnen und Ärzten, dass für einen Patienten keine Aussicht auf Heilung mehr besteht und dieser Patient ohne Spontanatmung mit akuter primärer oder sekundärer Hirnschädigung als Organspender in Betracht kommt. „Dieser Zeitraum VOR Feststellung des IHA erscheint uns wesentlich komplizierter und entscheidender für die Verwirklichung von Organspenden“, so Hahnenkamp als Mann der Praxis.
Therapie nach Wunsch des Patienten oder für die Aufrechterhaltung gesunder Organe?
In dieser Phase werden 30 Prozent der Visitenzeit auf einer deutschen Intensivstation für den Themenkomplex Therapielimitierung, Behandlungswillen und -auftrag, gemeinhin die Patientenautonomie, aufgewendet – ein Ergebnis langjähriger Entwicklungsprozesse in der deutschen (Intensiv-)Medizin. „Bei uns stehen die Patientenautonomie und der Patientenwillen im Zentrum einer patientenzentrierten Versorgung und Betreuung“, weiß der versierte Intensivmediziner. Grundsätzlich stellt sich daher bei einem Patienten mit erwarteten oder vermuteten IHA die Frage, ob die Weiterführung intensivmedizinischer Maßnahmen bis zur Feststellung des IHA überhaupt vom Patientenwillen gedeckt ist. „Denn alle intensivmedizinischen Maßnahmen dienen zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht mehr dem Zweck der Gesundung des Patienten, sondern einem Fremdzweck – der Spende von Organen“, erklärt Hahnenkamp. Die Realisierung einer Organspende ist ohne die Aufrechterhaltung intensivmedizinischer Maßnahmen unmöglich, weil ohne diese Behandlungsmaßnahmen eine ausreichende Durchblutung der Organe nicht mehr sichergestellt wäre. „Ergibt aber die Einsichtnahme in das geplante Register, dass der Patient eine Organspende ablehnt, würden die intensivmedizinischen Maßnahmen an diesem Punkt beendet und ein palliatives Konzept mit Sterbebegleitung umgesetzt werden“, erläutert Hahnenkamp den Ablauf der Behandlung.
Zeitpunkt der Einsichtnahme in das Register ist wesentlich
Es wird deutlich: Der Zeitpunkt der Einsichtnahme, der Erkenntnis „Was wünscht sich der Patient?“ ist wesentlich. Das Selbstbestimmungsrecht eines Patienten ist ein hohes und verpflichtendes Gut. „Die Einsichtnahme in ein zukünftiges Register erst NACH Feststellung des Todes als Folge des IHA ist nicht praktikabel und widerspricht einem spenderzentrierten Vorgehen unter Berücksichtigung der elementar wichtigen Patientenautonomie und der gelebten Praxis in der Intensivmedizin“, fasst deshalb DIVI-Präsident Janssens noch einmal zusammen. Die DIVI fordert entsprechend, den Zeitpunkt der Einsichtnahme in das Register in der jetzt folgenden, weiteren Ausarbeitung des Gesetzesentwurfes vorzuverlegen – auf den Zeitpunkt des mutmaßlichen Hirnfunktionsausfalls.
Weiterhin ruft die DIVI alle Bundesbürger dazu auf, sich selbstständig einen Organspendeausweis herunterzuladen oder kostenlos zu bestellen, um die eigene Meinung kurz und präzise zu dokumentieren.
Weitere Informationen:
https://www.divi.de/presse/pressemeldungen/pm-neues-gesetz-zur-organ-und-gewebes...
Quelle: idw_2020-01-23